Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main – 2. Strafsenat –
hat am 19. Mai 2020 gemäß § 29 IRG beschlossen:
Die Auslieferung der Verfolgten wegen der in dem Haftbefehl des U.S. Bundesbezirksgerichts für den Nördlichen Gerichtsbezirk von Illinois vom 25.05.2011 in Verbindung mit den Anklageziffern 4, 5, 8 und 9 der erweiterten Anklageschrift vom 24.05.2011 genannten Taten ist unzulässig.
Der Auslieferungshaftbefehl vom 10.01.2020 in der Fassung des Beschlusses vom 2. März 2020 wird aufgehoben.
Aus den Gründen:
I.
Die US-amerikanischen Behörden ersuchen um Festnahme und Auslieferung der am 03.01.2020 festgenommenen Verfolgten in die USA zum Zwecke der Strafverfolgung.
Der Senat hat mit Beschluss vom 10.01.2020 die vorläufige und sodann mit Beschluss vom 02.03.2020 die förmliche Auslieferungshaft gegen die Verfolgte angeordnet. Nach den vorgelegten Auslieferungsunterlagen besteht gegen die Verfolgte ein Haftbefehl des U.S. Bundesbezirksgerichts für den Nördlichen Gerichtsbezirk von Illinois vom … zum Zwecke der Strafverfolgung. Der Haftbefehl bezieht sich auf die der Verfolgten vorgeworfenen Anklageziffern 4, 5, 8 und 9 in der erweiterten Anklageschrift.
Der Verfolgten wird hierin Folgendes zur Last gelegt:
Von etwa Juli 1999 bis Oktober 2007 zogen die Verfolgte und weitere Personen im nördlichen Distrikt von lllinois und an weiteren Orten einen internationalen Handel mit gefälschter Kunst auf, bei dem Hunderte Kunden um mehr als 4 Millionen USO betrogen wurden. Die Verfolgte und ihre Mittäter erstellten hierzu totalgefälschte Kunstdrucke in limitierter Auflage, mutmaßlich von verstorbenen Meisterkünstlern wie beispielsweise Pablo Picasso oder Andy Warhol, und veräußerten diese. Mittäter der Verfolgten fälschten die Kunstwerke in Italien und Spanien. Die Verfolgte und weitere Personen veranlassten den Transport der Totalfälschungen in die USA über internationale, gewerbliche Transportunternehmen. Die Verfolgte und ihre Mittäter legten den Kunden verfälschte Echtheitsbescheinigungen vor, verkauften die gefälschte Kunst in Galerien, im Internet sowie auch privat. Sie akzeptierten die Zahlung per Banküberweisung.
Um den 11.11.2005 veranlassten die Verfolgte und zwei Mittäter den Versand einer Rechnung in Höhe von 22.500,- USD über ein Sortiment an totalgefälschten Kunstdrucken von Joan Miro per Fax von Florida an die Kunsthändlerin A (Kunstgalerie B), die von der Kunsthändlerin auch in voller Höhe bezahlt wurde (Anklageziffer 4).
Um den 14.11.2005 veranlassten die Verfolgte und zwei Mittäter eine Banküberweisung in Höhe von 22.500,- USD für den Erwerb gefälschter Kunstdrucke vom Geschäftskonto derselben Kunsthändlerin auf das Bankkonto der Verfolgten (Anklageziffer 5).
Sowohl um den 21.11.2006 als auch um den 06.12.2006 veranlassten die Verfolgte und drei Mittäter jeweils den Versand einer Rolle mit totalgefälschten Marc Chagall-Drucken von Florida, nach Illinois über den gewerblichen Spediteur C für Transporte zwischen den Bundesstaaten (Anklageziffern 8 und 9). Der Käufer der Drucke zahlte hierfür einen Gesamtbetrag in Höhe von 12.262,50 EUR an die Verfolgte.
Darüber hinaus wird in Anklageziffer 1 der erweiterten Anklageschrift vom 24.05.2011, auf die in den Anklageziffern 4, 5, 8 und 9 jeweils Bezug genommen wird, in den Absätzen 1 bis 41 allgemein der modus operandi der Gruppierung beschrieben, ohne dass gegen die Verfolgte hierin weitere konkrete Tatvorwürfe erhoben werden.
Die Verfolgte ist aufgrund des vorgenannten Haftbefehls des U.S. Bundesbezirksgerichts für den Nördlichen Gerichtsbezirk von Illinois vom 25.05.2011 am XX.01.2020 festgenommen worden und befand sich bis zum 13.05.2020 in Haft.
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main beantragt, die Auslieferung für unzulässig zu erklären und den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben.
II.
Die Auslieferung der Verfolgten in die USA ist unzulässig, da ihr das Auslieferungshindernis des Verbots der Doppelbestrafung gemäß Art. 8 D-USA AuslVertrG /Art. 9 EurAuslÜbk entgegensteht. Die Republik Italien hat sich gegenüber dem Senat explizit auf dieses Auslieferungshindernis zugunsten der Verfolgten berufen und damit die Auslieferung der Verfolgten als italienische Staatsangehörige in die USA gesperrt. Die Sperrwirkung folgt aus der rechtskräftigen Verurteilung der Verfolgten in ihrem Heimatland Italien wegen derselben wie in dem Auslieferungsgesuch genannten Taten.
Die Verfolgte wurde bereits durch Urteil des Gerichts in Mailand vom … wegen Straftaten im Zeitraum von 2002 bis Sommer des Jahres 2007 gemäß Art. 416 Absatz 1,02,05 des ital. StGB und gemäß Art. 81 und 100 des ital. StGB mit Art. 178 Abs. 1 a) und b) des ital. Gesetzesdekrets Nr. 42 vom 22.01.2004 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt.
Der Verurteilung der Verfolgten durch das Gericht in Mailand vom 08.01.2013 liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Verfolgte schloss sich unter anderem mit den gesondert verfolgten D und F zusammen, um in der Folgezeit gefälschte Kunstwerke in Form von Gemälden, Skulpturen und Graphiken herzustellen und diese gewinnbringend zu veräußern. Zu diesem Zwecke nahmen die Verfolgte und ihre Mittäter unter anderem auch Kunsthändler in den USA in ihre Gruppierung auf, um so den Absatz der gefälschten Kunstwerke an ahnungslose Kunden auch dort zu organisieren. Die Verfolgte war innerhalb der Gruppierung insbesondere für die Vermarktung der Fälschungen in den USA zuständig, wohin sie zwischen 2002 und 2007 von Mailand aus insgesamt mindestens 100 gefälschte Kunstwerke in mindestens 40 Sendungen, unter anderem auch an die Kunstgalerie B der Inhaberin A in Illinois, versendete.
Dieser Sachverhalt weist Tatidentität zu den der Verfolgten im Haftbefehl des U.S. Bundesbezirksgerichts für den Nördlichen Gerichtsbezirk von Illinois vom 25.05.2011 in Verbindung mit den Anklagepunkten 4, 5, 8 und 9 in der erweiterten Anklageschrift vom 24.05.2011 genannten und ausgeschriebenen Taten auf. Sämtliche Anklagepunkte sind bereits in der Verurteilung der Verfolgten in dem Urteil des Gerichts in Mailand vom 08.01.2013 enthalten.
Als eine Tat im Sinne von Art. 54 SDÜ ist ein Komplex unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der Qualifizierung dieser Tatsachen oder dem rechtlich geschützten Interesse, zu verstehen (vgl. hierzu EuGH NJW 2006, 1781). Die Verfolgte wurde von dem Gericht in Mailand am 08.01.2013 wegen Taten nach dem modus operandi exakt wie in dem Haftbefehl des U.S. Bundesbezirksgerichts für den Nördlichen Gerichtsbezirk von Illinois vom 25.05.2011 geschildert unter Mitwirkung der identischen Mittäter D und F unter anderem zulasten der identischen Geschädigten A rechtskräftig verurteilt. Die in dem Haftbefehl des U.S. Bundesbezirksgerichts für den Nördlichen Gerichtsbezirk von Illinois vom 25.05.2005 genannten Tatzeiträume 11.11.2005 (Anklagepunkt 4), 14.11.2005 (Anklagepunkt 5), 21.11.2006 (Anklagepunkt 8) sowie um den 06.12.2006 (Anklagepunkt 9) sind ebenfalls sämtlich von der Verurteilung der Verfolgten durch das Gericht in Mailand (Tatzeitraum 2002 bis Sommer 2007) mitumfasst. Es handelt sich um den gleichen Sachverhalt und mithin die identische prozessuale Tat, nämlich den Vertrieb gefälschter Kunstwerke. Kern der Verurteilung der Verfolgten durch das Gericht in Mailand war der Aufbau einer kriminellen Struktur, um weltweit, so auch in den USA, Betrugstaten durch den Verkauf gefälschter Kunstwerke zu begehen. Die in dem Haftbefehl vom 25.05.2005 enthaltenen Tatvorwürfe sind insofern lediglich Teilausschnitte eines auf einem einheitlichen Betrugsvorsatz beruhenden, eine einheitliche Angriffsrichtung verfolgenden und in seiner Begehungsweise weitgehend identischen Gesamtgeschehens, das bereits Gegenstand der Verurteilung der Verfolgten durch das Gericht in Mailand vom 08.01.2013 war. Wenn durch Schaffung, Betreuung, und Ausnutzung von Organisationsstrukturen Rahmenbedingungen gesetzt werden, die auf die Schädigung einer Vielzahl von Personen in mehreren Ländern angelegt sind, liegt eine einheitliche Tat vor (vgl. OLG München, Az.: OLG Ausl 262/09).
Da es sich um identische Taten handelt, steht somit Art. 8 D-USA AuslVertrG / Art. 9 EurAuslÜbk der Auslieferung der Verfolgten entgegen. Die Norm bestimmt zwar nach ihrem Wortlaut, dass die Auslieferung nur in Fällen nicht bewilligt wird, in denen die Verfolgte wegen der Straftat, derentwegen um Auslieferung ersucht wird, von den zuständigen Behörden des ersuchten Staates bereits rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist. Hiernach wäre erforderlich, dass die Verfolgte durch ein deutsches Gericht rechtskräftig verurteilt worden wäre, was aber nicht der Fall ist. Sie wurde durch ein italienisches Gericht am 08.01.2013 rechtskräftig verurteilt.
Der Senat ist aber aufgrund der europarechtlichen Verpflichtung Deutschlands im Verhältnis zu dem Mitgliedstaat Italien gehalten, dessen Verurteilung der Verfolgten als Auslieferungshindernis gegenüber einem Drittstaat anzuerkennen. Dies folgt aus Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (= EuGH), die die Anwendbarkeit von Unionsrecht und hierbei speziell von Art. 18 iVm 21 AEUV herausstellen:
Der EuGH hat mit Urteil vom 06.09.2016 (Az.: C-182/15, sog. „Petruhhin“-Urteil) festgelegt, dass ein EU-Mitgliedstaat im Rahmen eines Auslieferungsersuchens eines Drittstaates dem Informationsaustausch mit dem EU-Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Verfolgte hat, Vorzug einzuräumen hat, um so dem Heimatstaat des Verfolgten die Möglichkeit einzuräumen, anstellte einer Auslieferung seines Staatsbürgers dessen Strafverfolgung selbst durchzuführen. Der einem EU-Bürger in seinem Heimatstaat gewährte Schutz vor Auslieferung ist ihm auf diese Weise auch in anderen EU-Mitgliedstaaten einzuräumen, da nur so gewährleistet ist, dass die Freizügigkeit eines EU-Bürgers innerhalb der Union nicht in unzulässiger Weise eingeschränkt wird.
In seinem Urteil vom 10.04.2018 (Az.: C-191/16, sog. „Pisciotti“-Urteil) hat der EuGH diesen Grundsatz nochmals untermauert und auch auf solche Fälle ausgedehnt, in denen der ersuchte EU-Mitgliedstaat ein internationales Abkommen mit einem Drittstaat hinsichtlich der Auslieferung – wie im vorliegenden Fall Deutschland mit den USA – abgeschlossen hat. Hiernach gilt folgender Grundsatz: Übt ein Unionsbürger, gegen den sich ein Ersuchen auf Auslieferung in die USA richtet, sein Recht auf Freizügigkeit aus und wird deshalb in einem anderen EU-Mitgliedstaat zum etwaigen Vollzug des Ersuchens festgenommen, unterfällt die Situation dieses Bürgers in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Es würde zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung führen, wenn ein Unionsbürger in seinem Heimatland gemäß Art. 7 des D-USA AuslVertrG nicht ausgeliefert werden dürfte, würde er dort festgenommen werden, jedoch ausgeliefert werden dürfte, falls die Festnahme in einem anderen EU-Mitgliedstaat erfolge. Auch in diesem Fall sei der ersuchte Staat folglich verpflichtet, mit dem Heimat-Mitgliedstaat des Verfolgten Kontakt aufzunehmen, um diesem die Strafverfolgung zu ermöglichen, die einer Auslieferung vorgeht. Nur so ist gewährleistet, dass ein EU-Bürger in jedem anderen EU-Staat einen vergleichbaren Schutz vor Auslieferungsersuchen wie in seinem Heimatstaat hat und sich folglich frei innerhalb der EU zu bewegen vermag.
Ein deutscher Staatsbürger hätte aufgrund des Verbots der Doppelbestrafung gemäß Art. 8 D-USA AuslVertrG nicht an die USA ausgeliefert werden dürfen, falls er in Deutschland bereits rechtskräftig wegen derselben Tat verurteilt worden wäre. Wäre die Verfolgte als italienische Staatsangehörige in Italien festgenommen worden, wäre sie ebenfalls nicht an die USA ausgeliefert worden. Um die Verfolgte als EU-Bürgerin nicht in unzulässiger Weise in ihrer Freizügigkeit innerhalb der EU gemäß Art. 18 iVm 21 AEUV zu diskriminieren, sieht sich der Senat gehindert, die Verfolgte auszuliefern, da ihr Heimatland – der EU-Mitgliedstaat Italien – für sie explizit den Grundsatz „ne bis in idem“ geltend gemacht hat. Da Italien bereits wegen der identischen Taten die Strafverfolgung gegen die Verfolgte betrieben hat (s.o.), ist es dem Senat wegen des Verbots der Doppelbestrafung verwehrt, sie nunmehr an die USA auszuliefern. Wäre die Verfolgte noch nicht verurteilt worden, wäre ihrem Heimatland Italien ein Vorrang der Strafverfolgung vor der Auslieferung der Verfolgten einzuräumen gewesen. Im Falle einer bereits rechtskräftigen Verurteilung muss diese erst recht Vorrang vor einer Auslieferung haben. Insofern ist der Senat im Verhältnis zu der Republik Italien als EU-Mitgliedsstaat auch aufgrund der Regelung des Art. 9 EuAlÜbk gebunden, die ebenfalls eine Unzulässigkeit von Auslieferungen vorsieht, wenn hierbei eine Doppelbestrafung drohen würde.
Insofern sich die der Verfolgten vorgeworfenen Anklagepunkte 4, 5, 8 und 9 in der erweiterten Anklageschrift vom 24.05.2011 jeweils auch auf die Absätze 1 bis 41 des Anklagepunktes 1 jener Anklageschrift beziehen und hierin in Anklagepunkt 1 Absatz 2 der Tatzeitraum von Juli 1999 bis Oktober 2007 genannt ist, der von dem Urteil des Gerichts in Mailand vom 08.01.2013 zeitlich nicht vollumfänglich miterfasst ist, sieht sich der Senat ebenfalls an einer Auslieferung der Verfolgten gehindert.
Anklagepunkt 1 enthält in seinen Absätzen 1 bis 41 keine konkreten, gegen die Verfolgte erhobenen Tatvorwürfe, sondern beschreibt lediglich pauschal die Vorgehensweise der Gruppierung und benennt die jeweiligen Mitglieder und ihre Rollen innerhalb der Gruppierung. Es sind hingegen keine konkreten strafbaren Handlungen der Verfolgten genannt, die die Grundlage einer Auslieferung darstellen könnten.
Da die Auslieferung der Verfolgten aus den vorgenannten Gründen unzulässig ist, war auch der Haftbefehl vom 02.03.2020 aufzuheben.